Befund
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Tilsit: "Pfarrers Töchter, Krügers Söhne
und Müllers Küh', wenn die gerathen, gibt's gut Vieh."
Wander (1867-80) 3,1251
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shess. "Pfarrers Kind und Müllers Küh gedeihen selten oder nie."
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Pfalz "Parrers Kinn (Kinder) un Müllers Küh, wann's geroot, gibt's gut
Vieh"
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Schwäbisch (1925):
"Pfarrers Kinder, Pfarrers Vieh gedeihen selten oder nie.
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Heute sind
viele Varianten in Umlauf, die wohl nur ungenau zitiert oder nach Bedarf
abgewandelt sind (Google):
Theorien
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Priesterkind – Wikipedia (16.12.2012)
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Nicht selten
wurden Pfarrerskinder [durch die hohen Erwartungen der Gesellschaft] in
eine Außenseiterrolle gedrängt. Andererseits ist der Anteil von
Pfarrerskindern, die eine herausragende Persönlichkeit entwickelt haben,
überdurchschnittlich hoch. So sind über die Hälfte jener berühmten
Persönlichkeiten sowie 26 Prozent der deutschen Dichter bis 1900, die
Eingang in die Allgemeine Deutsche Biographie gefunden haben,
Pfarrerskinder.
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Geschlechtliche Ungleichheit in Systemtheoretischer Perspektive,
herausgegeben von Christine Weinbach
95 Anm 29. (2007)
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scherzhaft
im Mund der Landbevölkerung, weil man an Pfarrer besondere Ansprüche
stellt (1925)
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Der kath.
Pfarrer hat keine Kinder.
Diskussion
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Es geht hier
nicht um das heutige Verständnis, sondern um den ursprünglichen Sinn.
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Es gibt zwei
alte Versionen:
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... geraten
/ gedeihen nur selten, d. h. so gut wie nie.
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... Wenn sie
geraten, gibt es gutes Vieh.
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"Krügers
Söhne" passt nicht in Rhythmus und Reim, daher spätere Zutat.
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"Wenn die
Kühe geraten, gibt es gutes Vieh" ist Tautologie: "Wenn sie sich gut
entwickeln, werden sie gut".
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Dann wäre
das ein Rätselwort, mit der Lösung: Es geht nicht um die Töchter, sondern
um die Kühe.
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Das würde
aber voraussetzen, dass es ein Sprichwort über die Pfarrerstöchter gab.
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Also eine
Parodie auf den Sprichwort über die Pfarrerskinder und nicht ursprünglich.
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Schutzbehauptungen der evg. Geistlichen, die das Sprichwort ins Gegenteil
verkehren:
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Nur im
Dialekt reimt sich "Kühe" auf "nie". "Vieh" ist also in der hochdeutschen
Fassung dem Reim angepasst.
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Zwei
Deutungsmöglichkeiten:
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Es ging
ursprünglich um die Pfarrerstöchter.
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Die Söhne
bekamen meist eine höhere Bildung und eine gute Position, die den Töchtern
verwehrt blieb. Ihnen blieb nur die Ehe mit einem Akademiker, wenn sie
ihren Stand behalten wollte. Trotzdem blieben die hohen moralischen
Anforderungen bestehen.
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Was für die
Pfarrerskinder gilt, lässt sich auch auf die Lehrerskinder übertragen.
eine gute Ausgangsposition und hoher Erwartungsdruck.
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Im Klatsch
geht es immer um Sonderfälle, nicht um das Alltägliche. Wenn eine
Pfarrerstochter "missrät", wird gleich das Sprichwort zitiert. Über die
Menge der Wohlgeratenen verliert man kein Wort und hat wohl auch keinen
Überblick, wie das bei anderen Pfarrersleuten ist.
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Dass eine
Pfarrerstochter zur Bundeskanzlerin aufgestiegen ist, müsste nach dem
Sprichwort eine der seltenen Ausnahmen sein. Man zitiert es aber als
"Volksweisheit", wenn man mit ihrer Politik nicht einverstanden ist.
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Der Pfarrer
genießt in Westdeutschland traditionell ein hohes Ansehen. In
Ostdeutschland und bei Religionslosen gilt er eher als Exot, von dessen
Tätigkeit man nur unklare Vorstellungen hat. Seine Kinder können nach
dieser Meinung ebenfalls nur Exoten sein, die nicht gedeihen oder geraten.
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Es ging
ursprünglich um die körperliche Entwicklung der Pfarrerskinder
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Dazu die
Parallele: "Schusters Kinder gehen barfuß"
↗: Der Schuster produzierte nicht für den eigenen Bedarf. Wenn er
mit seiner Arbeit wenig verdiente, konnte er sich für die Familie keine
Schuhe leisten.
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Der Müller
hatte zwar jede Menge Getreide und Mehl im Haus, aber nur für seine Kunden
und nicht für seine Familie und seine Tiere.
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Der Krüger
'Gastwirt' bewirtete fremde Leute. Seine Kinder mussten gewisse nicht
hungern, aßen aber eher die Reste als dass für sie extra gekocht wurde.
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Aus Sicht
der Bauern hatten auch Pfarrer und Lehrer nicht genug zu essen. Sie hatten
zwar eine kleine Landwirtschaft, konnten aber davon allein nicht leben und
"mussten nebenher Geld verdienen". Und die Pfarrer und Lehrer in
Landgemeinden um 1800 waren wirklich arm, denn nur reiche Gemeinden
konnten sie gut besolden.
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Die
Studierten und Schreiber verachtete man ohnehin als Schwächlinge, die zur
normalen Arbeit nichts taugten oder dazu zu faul waren.
Wie konnten
diese Kindern und Tiere groß und stark werden?
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Die mir
bekannten alten süddeutschen Fassungen handeln eindeutig von den Kindern,
nur die fragwürdige bei Wander von den Töchtern. Es ist auch nicht
einzusehen, warum nur die Pfarrerstöchter selten geraten. Die empirischen
Untersuchungen und sozialpsychologischen Theorien sind modern. Sie setzen
ein bestimmtes Verständnis des Sprichworts voraus, waren aber gewiss nicht
Anlass, diesen Sprichwort zu bilden.
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Es ist auch
zu beachten, dass nur in Süddeutschland auch der evg. Geistliche "Pfarrer"
genannt wird. In Norddeutschland sagt man "Pastor". Der Sprichwort kann also
nur aus dem Süden stammen. Ferner gab es im Nordosten auch kaum kath.
Pfarrer und noch weniger kath. Pfarrerskinder, auf die man den Sprichwort
hätte beziehen können.
Erklärung
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Sprachecke
18.06.2013
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